Eine 33-köpfige österreichische Delegation aus Expert:innen der Allgemeinmedizin, Pflege, Sozialen Arbeit, Wissenschaft, Politik und Verwaltung reiste Mitte Mai in die Niederlande, um eines der stärksten und modernsten Primärversorgungssysteme Europas vor Ort kennenzulernen.
Wir besuchten:
- Das Forschungsinstitut NIVEL in Utrecht,
- das Domus Medica in Utrecht,
- das Radboud University Medical Center in Nijmegen,
- das Amsterdam University Medical Center,
- die Organisation Buurtdokters (ein Hausärzt:innen-Netzwerk) sowie
- mehrere Primärversorgungszentren.
Der Austausch mit diesen renommierten Einrichtungen lieferte zentrale Impulse für die Weiterentwicklung der Primärversorgung in Österreich.
Was die Primärversorgung in den Niederlanden stark macht
Zentrale Rolle von Hausärzt:innen
In den Niederlanden ist jede:r Bürger:in verpflichtend bei einer Hausärztin bzw. einem Hausarzt registriert. Hausärzt:innen übernehmen eine Lotsenfunktion und koordinieren die weitere medizinische Versorgung: Fachärzt:innen sind nur über hausärztliche Überweisung zugänglich, sie sind überwiegend in Spitälern tätig. Für Physiotherapie, Ergotherapie etc. benötigen Patient:innen keine Überweisung. Dieser Prozess reduziert Überdiagnostik, Doppelgleisigkeiten und entlastet Spitalsambulanzen.
Vergütungssystem nach Pauschalen
Hausärzt:innen bekommen eine nach Alter und Risikofaktoren angepasste Kopfpauschale für jede:n Patient:in. Dadurch soll Überversorgung vermieden werden. Die Vergütung gliedert sich wie folgt:
- 40% durch Kopfpauschale
- 25% durch Chronikerprogramme
- 20% durch Einzelleistungen
- 10% für Innovationen
- 5% durch Bereitschaftsdienste
Ein:e Hausärzt:in ist für ca. 2.300 Patient:innen zuständig.
Multiprofessionelles Team
Es gibt kaum klassische Einzelordinationen, sondern meistens Gruppenpraxen bzw. Primärversorgungszentren. Das Kernteam einer Ordination besteht meist aus Assistenzpersonal und mehreren Hausärzt:innen, eigens ausgebildete Pflegekräfte versorgen chronisch kranke Patient:innen. Das Assistenzpersonal ist für die Primärversorgung ausgebildet und für Tätigkeiten wie z.B. Blutabnahme, PAP-Abstrich oder Verwaltung zuständig. Die Gesprächsmedizin steht stärker im Vordergrund als die Apparatemedizin.
Rund-um-die-Uhr-Versorgung
Ordinationen haben in der Regel täglich von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Nach diesen Öffnungszeiten arbeiten Hausärzt:innen in einer der etwa 100 allgemeinmedizinischen Emergency Care Units – ca. eine Stunde pro Woche. Patient:innen können sich außerdem digital oder telefonisch jederzeit bei „Triage-Assistants“ melden.
Keine verpflichtende Krankschreibung durch Hausärzt:innen
In den Niederlanden müssen Arbeitnehmer:innen im Krankheitsfall nicht zu Hausärzt:innen gehen, um eine Krankschreibung zu bekommen. Bei Bedarf dürfen Arbeitgeber:innen aber eine ärztliche Bestätigung einfordern.
Qualitätsgesicherte hausärztliche Versorgung
Auch in der Qualitätssicherung haben die Niederlande hohe Standards: Alle fünf Jahre gibt es eine Re-Zertifizierung der Hausärzt:innen. Zudem haben 10% der Hausärzt:innen zusätzlich ein PhD-Studium abgeschlossen.
Hohe Relevanz der Forschung
Die Primärversorgungsforschung ist in den Niederlanden gut ausgebaut. Es gibt einen Fokus auf evidenzbasierte Leitlinien, die speziell für die Niederlande erstellt werden. Darauf aufbauend wurde beispielsweise das niederländische Gesundheitsportal entwickelt.
Der Site Visit wurde von der Plattform Primärversorgung der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) organisiert und durch die EU-Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility, kurz RRF genannt) finanziert. Die österreichische Delegation freut sich, mit den neu gewonnenen Eindrücken die Primärversorgungsreform in Österreich weiter voranzubringen!